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Was gute Experiences im Kern auszeichnet – und was wir im CX bisher übersehen haben
Prof. Dr. Susanne O’Gorman4 Minuten Lesezeit

Was gute Experiences im Kern auszeichnet – und was wir im CX bisher übersehen haben

Was gute Experiences im Kern auszeichnet – und was wir im CX bisher übersehen haben
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Die Erkenntnis, dass Menschen Experiences hoch schätzen – und zwar höher als materielle Besitztümer – gehört im CX-Umfeld eigentlich schon zum Standardwissen. Nicht wirklich verwunderlich: Experiences stehen im Zentrum unserer Disziplin, und viel von unserer Arbeit dreht sich darum, Erlebnisse so zu gestalten, dass sie unsere Kunden begeistern. Aber ist die Aussage „experiences matter more than material things" nur eine Annahme oder tatsächlich ein Fakt? (Spoiler: Es stimmt.) Und noch wichtiger: Warum machen Erlebnisse Menschen überhaupt glücklicher als materielle Dinge?

Das sind zwei der Schlüsselfragen, die die Forscher Thomas Gilovich (Cornell University, USA) und Iñigo Gallo (IESE Business School, Spanien) in ihrem Artikel „Consumers' pursuit of material and experiential purchases" adressieren. Die Autoren haben keine neue Studie durchgeführt, sondern mehr als 15 Jahre Forschung zu materiellen versus erlebnisorientierten Käufen ausgewertet.

Experiences haben für die meisten Menschen – aber nicht für alle – tatsächlich eine höhere Bedeutung

Gilovich und Gallo zeigen sehr klar: Experiences machen die meisten Menschen im Durchschnitt glücklicher als materielle Dinge. Wenn Menschen rückblickend betrachten, wofür sie ihr Geld ausgegeben haben, sind sie tendenziell zufriedener mit Reisen, Konzerten oder besonderen Restaurantbesuchen als mit Gadgets, Möbeln oder Kleidung, die ähnlich viel gekostet haben.

Dieser „Erlebnisvorteil" zeigt sich durchgängig: Die Vorfreude ist größer, wenn Menschen ein Erlebnis erwarten. Sie genießen das Erlebnis im Moment besonders intensiv. Und sie bewerten es später in der Erinnerung meist ebenfalls positiver. Wir bereuen eher, ein Erlebnis verpasst zu haben – während wir bei Dingen bereuen, sie überhaupt gekauft zu haben.

Aber Vorsicht: Dieser Vorteil gilt nicht für alle gleichermaßen. Er setzt voraus, dass grundlegende Bedürfnisse gedeckt sind und zumindest ein gewisser finanzieller Spielraum vorhanden ist.

Warum machen uns eigentlich Experiences glücklicher?

Erlebnisse wirken stärker, weil sie mehrere psychologische Mechanismen gleichzeitig ansprechen. Der wichtigste: Experiences schaffen soziale Verbindungen. Wir unterhalten uns oft mit Freunden über Erlebnisse, und diese Gespräche sind lebendiger und emotionaler als Gespräche über Dinge, die wir gekauft haben. Es entsteht ein Gefühl von Nähe oder Verbundenheit, wenn Menschen etwas Ähnliches erlebt haben. In Sozialen Medien wird häufiger über Erlebnisse als über Produkte gesprochen. Zugehörigkeit ist ein Grundmotiv menschlichen Handelns – der soziale Aspekt trägt wesentlich zum emotionalen Wert von Erlebnissen bei.

Dazu kommt: Erlebnisse leisten mehr für unsere Identität als materielle Produkte. Wenn Menschen über ihre persönliche Lebensgeschichte nachdenken, betonen sie eher wichtige Erfahrungen als die Dinge, die sie gekauft haben. Erlebnisse werden Teil dessen, wie wir uns selbst sehen, sehen möchten und wie wir uns anderen präsentieren. Wir gehen intuitiv davon aus, dass wir das „wahre Selbst" eines Menschen besser verstehen, wenn wir wissen, was er oder sie erlebt hat, als wenn wir nur wissen, was diese Person besitzt.

Der dritte Faktor: Erlebnisse sind weniger anfällig für soziale Vergleiche. Materielle Güter laden sehr direkt zum Vergleichen ein – dein Handy versus meins, dein Auto versus das des Nachbarn. Sobald jemand eine „bessere Version" besitzt, kann das unsere Zufriedenheit negativ beeinflussen. Erlebnisse werden hingegen häufiger unabhängig von anderen bewertet.

Was bedeutet das für CX-Praktiker?

Nicht alles für alle als „Erlebnis" verkaufen. Die Aussage „experiences matter more than material things" trifft vor allem auf Kunden mit etwas finanziellem Spielraum zu. Für CX-Verantwortliche ist das eine wichtige Nuance: Alles reflexartig als „Experience" zu labeln, wird nicht automatisch alle Kunden glücklicher machen. In manchen Segmenten – insbesondere dort, wo Menschen finanziell stark unter Druck stehen – kann das Versprechen von besonderen Erlebnissen sogar wie leere Marketingrhetorik wirken, wenn die Basics nicht stimmen. Ehrlich sein, für wen man gestaltet und was diese Menschen wirklich brauchen. Für manche ist ein verlässliches, robustes Produkt bereits das wichtigste „Erlebnis".

Die soziale Komponente im CX erkennen. Wenn wir Experiences entwerfen, achten wir oft darauf, wie sie Kunden emotional ansprechen. Das ist richtig und wichtig. Gleichzeitig vernachlässigen wir häufig die soziale Komponente, obwohl die Forschung zeigt: Soziale Verbundenheit ist einer der zentralen Gründe, warum Erlebnisse glücklicher machen als Dinge. Wir sollten uns bei jeder wichtigen Journey ganz gezielt fragen: Wo kann ich soziale Aspekte – etwa den Austausch mit anderen – in der Journey verankern? Wie kann ich Kunden das Gefühl geben, Teil einer Gemeinschaft zu sein? Wie kann ich Social Media nicht nur als Marketingkanal nutzen, sondern als Experience Touchpoint?

Identitätsstiftende Elemente in CX integrieren. Die dritte, oft übersehene Konsequenz betrifft die Verbindung zum „desired self", also zu dem Menschen, der ich gerne sein möchte. Kunden kaufen nicht einfach einen Kochkurs, ein Leadership-Programm oder ein nachhaltiges Finanzprodukt. Sie kaufen einen Schritt hin zu einer angestrebten Identität: jemand zu sein, der kreativ, selbstbewusst, abenteuerlustig, fürsorglich oder verantwortungsvoll ist – je nach persönlichem Idealbild.

Für CX-Praktiker bedeutet das: Wann immer du eine Journey gestaltest, stell dir vor: Wer möchte unser Kunde in diesem Kontext sein? Wie kann der Kontakt mit uns ihm oder ihr helfen, sich ein Stück mehr wie diese Person zu fühlen? Und wie können wir das erlebbar und erinnerbar machen, sodass es Teil der persönlichen Geschichte wird?

Wer versteht, dass Kunden im wahrsten Sinne des Wortes „anders denken", wenn es um Erlebnisse statt um Dinge geht, kann Journeys und Touchpoints so designen, dass sie nicht nur gut funktionieren, sondern auch emotional resonieren und identitätsstiftend wirken. Sie werden zu Bausteinen in der eigenen Lebensgeschichte des Kunden – und genau dort entsteht nachhaltiger Wert im Customer Experience Management.

*Gilovich, T. & Gallo, I. (2020). Consumers’ pursuit of material and experiential purchases: A review. Consumer Psychology Review 3, 20-33.

 

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Prof. Dr. Susanne O’Gorman

... ist Professorin für Marketing mit Schwerpunkt Customer Centricity an der IU International University. Sie hat vor ihrer akademischen Laufbahn mehr als 20 Jahre lang Kunden in der Strategie, Umsetzung und Messung ihrer Customer Experience Projekte unterstützt. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen im Bereich Customer Experience, Customer Feedback Management, Customer Journeys und Digitalisierung.

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